Montag, 29. Juni 2015

Vor vier Wochen - Tag 4: Parchim - Röbel


Vorsätze mit Raster sind vorgesetzte Rastlosigkeit. (Der war jetzt nicht so gut, oder?) - Jedenfalls: Wie hatte ich glauben können, Tag für Tag die Radreise zu erzählen, wenn hier nebenbei das ganze schulische Leben läuft.
Ich bin also um eine Woche verrutscht und taufe um: "Vor vier Wochen ..."

Die Frühstückszeit hatte ich abends für 7.30 angegeben. Ehrgeizling, ich. Immer noch gefangen in der irrigen Meinung, ein Radwanderer müsse eben früh aufbrechen. Die lieben Wirtsleute kooperieren mit meinem Schweinehund, indem sie eine 2-Liter-Kaffeekanne auf den Tisch stellen und dafür sorgen, dass ich zunächst meine nächtlichen Träume ins Tagebuch verfrachte und ein paar Kilo Buchseiten inhaliere. Kaffee aber auch. Und weil es eh schon so spät ist, schraube ich vor dem Gepäckbeladen gleich noch an allen Teilen des Fahrrades herum, die ich schon immer richten wollte. Wenigstens habe ich das Rad nicht noch neu angestrichen. Allerdings einen Radladen aufgesucht (Schmiermittelnachschub!) und ganz gebannt einer Diskussion von Vater, Mutter, Verkäuferin gelauscht, ob an dem Retrogeschenkradl für das pubertierende Tochterkind ein Schloss an sich und wenn ja welches denn "cool" und "angesagt" ist. Das Diebstahlsargument kam in der Diskussion am Rande vor.

Nun, es ist 11 Uhr, als ich Parchim verlasse. Von dem Tag an sehe ich die Abfahrtszeit gelassen. Gehetzt fühle ich mich im Alltag genug.






Der Weg ist heute vorzugsweise gelb und hügelig. Wohltuend kraftfordernd und -gebend. Manchmal stehe ich vor einem Tor, von dem es auch wieder ... ähm ... auf den Weg geht. Immer weiter.







Da sind alte Steine, welche mich nicht überraschen. Und alte Inschriften, welche dies tun. (Für die im anderen Land aufgewachsenen: dies sind kyrillische = russische Buchstaben. Heißt "Plau" und "Parchim". Der Putz des Hauses weist also eine beeindruckende Haltbarkeitsdauer auf.)




Später setze ich mich in Lübz zu einem Nachmittags-zweiten-Frühstück nieder und stelle fest, dass ich hiermit genau das Foto aus dem Bikeline-Radwanderführer aufgenommen habe. Woher wussten die, wo ich mich hinsetze?




Heute ist ein optisch besonders seelestreichelnder Tag. Als Ausgleich für gestern?
Ich liebe diese alten Alleen, und selbst der Schornstein kann mir das Bild nicht trüben.




 


Plau am See ist ein wenig, nun, wie sagt man, leer? Leer trifft es nicht ganz. Es ist nicht nur leer. Es ist schmerzend leer. Leergewohnt. Leerverlassen. Leervereinsamt. Irgendwie so.
Touristen natürlich gibt es wie überall in dieser Ecke, das ist klar. Daher ergibt sich beim Fotografieren die absurde Situation, dass man zwar keine "normalen" Menschen, also Einwohner&Co auf dem Bild hat, aber stets achtgeben muss, dass nicht wer in Ich-war-da-Pose mitten aufs Bild kreuzt.










Der See von Plau am See dann ist ebenso leer. Dies allerdings würde ich den Temperaturen zuschreiben. Kalt kalt kalt, immer noch. Die Radwegeplaner haben daher vorausschauend und fürsorglich eine Erwärmungsübung von ca. 10 Kilometern eingebaut. Sie haben einfach den Asphalt von der Piste gekratzt, die Bäume§Büsche rechts und links etwas näher an den Weg gerückt und lustige Hügel aufgeschüttet. Zusätzlich haben sie die Wegweiser entfernt und an von der Himmelsrichtung her fraglichen Stellen sternförmig Sackgassen angebaut ...




Nu ja, gefühlt kurz vor der Dämmerung erreiche ich die andere Seite des Plau-am-See-Pfades. Und meine Kraft ihr Ende. Und meine Gangschaltung ihren ausgeleiertsten Zustand seit Kauf. Der höchste Gang vorn will nicht mehr. Zwangsläufig greife ich schon wieder zum Werkzeug. Zum Glück mussten wir früher (damals, im Osten) immer alles selbst reparieren. So finde ich auch ohne you.tube-Anleitung die verdächtigen zwei Schrauben, stelle fest, dass sie locker sind (*was meine Schüler schon immer über mich wissen wollten*) und ziehe sie an. Yep, und *stolzbin*.

Der Rest des Tages ist vom Blick auf die Uhr geprägt. Ich möchte morgen Nachmittag in Klink sein und nehme nun also die Reifen untern Arm. Weil der Radwanderführer wiederum sandige, unwegsame Streckenabschnitte voraussagt und ich vom Mountainbiking für heute genug habe, nehme ich asphaltierte Umwege. Nicht gerade Autobahnen, aber doch fast. Zum Ende des Tages nämlich, als alle verkehrsberuhigten Wege noch über ein Dutzend Dörfer und Umwegkilometer führen, entscheide ich mich für ein Stück Bundesstraße. Ich weiß, das nervt. Das nervt sogar sehr. Kann denn dieses blöde Rad nicht nebendran fahren. Ich schaffe es auch nicht ganz ohne mich zu schämen. Insbesondere vor dem VW-Bus, der mangels Überholmöglichkeit eine Ewigkeit hinter mir tuckern muss und den ich später auf dem Campingplatz wiedertreffe. Hoffentlich erkennen die mich nicht.




Es ist 19 Uhr, als ich Röbel erreiche. Für diejenigen unter uns, die immer noch nicht mitbekommen haben, wo wir uns befinden: Müritz-Therme. Müritz-Immobilien. Müritz-Bestattungen, gleich neben Müritz-Döner. Für jeden was dabei.

Und für mich: Müritzblick. Das ist jetzt einfach nur gut.




So gut wie das Ankommen am Zeltplatz, dessen telefongarstige Angestellte schon weg ist. Ich hatte ja am Telefon noch diskutiert, dass sie mir die Duschmarke doch in einem Umschlag an die Rezeption kleben könnte und dass ich sie auch bezahlen würde, falls sie zwischenzeitlich entwendet würde. Nee, ham wa noch nie jemacht. Okee okee. Dafür verspricht sie, morgens extra eher zu kommen, um 7 schon, wegen meiner Duschmarke. Öhm, das hatte ich gar nicht erbeten. Jetzt fühle ich mich unter Druck, weil ich also früh morgen aufstehen muss, und frage mich, ob ich sogar schon durchs Telefon gestunkengerochen habe.

Insbesondere diesen letzten Gedanken verdränge ich erfolgreich, wage mich in die Biergartenzivilisation (nicht ohne vorher noch das letzte Hemd aus der Packtasche anzuziehen), sorge dafür, dass das Detail rechts unten ins Bild gerückt wird und schaue ansonsten nur noch auf den See. Früher dachte ich, man müsse alt sein, um stundenlang nichtstuend auf einen See zu schauen. Heute denke ich das immer noch. Und ich begreife eine Wahrheit über mich ....




Im Ernst, was hier so flapsig daherkommt, weil die Trubeltage des Schuljahresende kaum noch eine andere Sprache zulassen als die albern kichernde - so wie bei Pubertierlingen immer dann, wenn es ans Eingemachte geht - das ist eine wirkliche Wahrheit meines Unterwegsseins:
Man ist sich selbst Gefährte und lernt sich besser kennen als je im Alltag, wo man stets ein wenig von sich selbst getrennt durch die Welt irrt.
Und mit dieser Küchenphilosophieweisheit sei genug vom heutigen Tag erzählt.





Donnerstag, 25. Juni 2015

Liebe Abiturienten,


natürlich war morgens die Schule verbarrikadiert, unser Parkplatz zugeparkt, laute Musik auf dem Schulhof. Gähn, nichts Neues unter der Sonne, dachte ich so.

Doch dann. Eigentlich war es sofort sichtbar. Wäre man nur ohne Vorurteil dazugekommen. Ihr tanztet da vorn, warft Konfetti (und nicht irgendein Ollzeug, Mehl oder so, von dem die Schüler sich in den Vorjahren bekleckern lassen mussten), und hattet da schon kleine witzige Aktionen vorbereitet. Die Schüler schauten ganz ungläubig. Kennen es ja nicht anders, als dass sie beim Abistreich nass und schmutzig gemacht werden, und dass es das dann war. Diesmal also weder nass noch schmutzig, und gewesen war es das noch lange nicht.

Natürlich - altbekannt - ein Parcours in die Schule hinein: über Stangen und Geröll drüber und unter Strippen und Planen hindurch klettern. Doch hier ein erstes Novum: Ihr hattet uns hinten eine Tür offen gelassen. Uns sogar drauf hingewiesen welche. Denn klar, als Lehrer hat man nur bedingt Freude daran, über Stangen und Geröll drüber und unter Strippen und Planen hindurch zu klettern. Und dabei aus dem Augenwinkel immer im Blick zu haben, dass all den kletternden Kleinen nichts passiert. Aufsichtspflicht und so. Dafür hattet diesmal ihr gesorgt: euch mustergültig an der Strecke postiert, Hilfestellungen, Sicherheitsabsperrungen, Verwarnungen für junge Regelbrecher. Sicherheitsdienste hätten ihre wahre Freude an euch gehabt.

Ein wahres Juchhu entfuhr uns, als wir das Lehrerzimmer betraten: Luftballonbällebad bis Bauchhöhe, da wird der Lehrer wieder zum Kind. Und - boah, ej (wer hat das bezahlt?) - quer über unsere Arbeitsplätze verteilt Kisten mit süßen Teilchen. Ich halte mir jetzt noch den prallen Bauch. Das war wirklich SEHR nett und liebevoll von euch! Und nicht genug: damit wir auch ausgiebig frühstücken können, habt ihr das traditionelle Schulhausrichten - alles, was ihr in der Nacht so umgeordnet habt, müssen die Schüler in detektivischer Kleinarbeit wieder zusammensammeln - in die Hand genommen. Die Kleinen angeleitet, die Stühlewanderungen durchs Haus koordiniert, beim Suchen vermissten Inventars Tipps gegeben ... Ihr habt wirklich an alles gedacht. Wie oft schon waren wir Lehrer in dieser Phase höchst angenervt. Diesmal durften wir einfach nur frühstücken. Ihr habt es wirklich sehr gut mit uns gemeint!

Und wie ihr später in die Klassen gekommen seid, um den "Unterricht" zu übernehmen. Auch dabei: sooo kooperativ. Wenn wir nicht eh schon vorher eingeweiht waren, habt ihr euch gern noch für eine Viertelstunde wegschicken lassen. Ich schreib doch nächste Woche mit den 8ern die Arbeit. Das Experiment musste noch durch. Danke, dass ihr flexibel wart. Danach habe ich gern euch an den Lehrertisch gelassen. Euer Programm für die Klassen war wohl sehr speziell und individuell für jede einzelne Klasse gestaltet. Kein Nullachtfuffzehn, haben uns die Schüler erzählt. Ich les demnächst mal nach, denn ihr habt alle Inhalte akribisch in den Klassenbüchern vermerkt. Ganz wie es sein muss in einem ordentlich dokumentierten Schulbetrieb.

Wir selbst waren, wie gesagt, ja nicht dabei, sollten ins Lehrerzimmer gehen. Das Frühstück war aufgeräumt, und es gab einen Film für uns. Nur für uns. Toll. Dass unser Beamer nicht funktionierte und wir alle vor dem winzigen Laptop hockten, dafür konntet ihr ja nichts. Wir waren auch so begeistert. Und werden von nun an bei künftigen Abistreichen immer gleich morgens die Frage stellen: "Dürfen wir Film schaun?" Mitlesende Lehrer kennen diese Frage und ihren Tonfall. Und nein, vor "Film" gehört keinesfalls ein Artikel.

Danach kamen leider unsere zwei "echten" Unterrichtsstunden. Das ist immer Vereinbarung: 3. und 4. ist Unterricht, ihr dürft(et) nicht stören. Habt ihr wirklich nicht, auch dies ein Novum. Es danken vor allem jene Kollegen, die an dem Tag (leider) eine Klassenarbeit geplant hatten. Das war mir ja mal passiert, den Termin in meiner Planung völlig verpennt. Gestern haben wir uns gemeinsam erinnert: das wart nämlich IHR, mit denen mir das passiert war. Damals in der 7. Klasse. Physikarbeit über Optik. Ich weiß noch, wie ihr bibbernd, weil nassgespritzt, gleichwohl willig, da kein Mensch eine Arbeit verschieben möchte, für die er schon gelernt hat, inmitten des Abistreichgetummels emsig eure Physikarbeit geschrieben habt. Asche auf mein Haupt. Und ein Kompliment für euren damaligen Willen, Jahre später. Trotzdem habt ihr es mir gestern nicht heimgezahlt. Ihr seid eben einfach großartig.

In der 5./6. Stunde dann der Höhepunkt des Tages. Der sich in so manchen Jahren schon zum Gähnen einfallslos in die Länge gezogen hat. Oder gar ganz ausgefallen ist. Ihr aber habt eine kleine Rahmenhandlung erschaffen (mal eben die Klassensprecher entführt, damit sie freigespielt werden können) und koordiniert alle Schüler aus dem Schulhaus abgeholt. Was dann auf dem Sportplatz abging, darüber blieb uns fast der Mund offen stehen: Ihr habt sie stufenweise gesammelt und aufgestellt - so viel Disziplin ist in einer 800er-Masse selten - sie instruiert, Ruhe und Zuhören eingefordert (wir mussten grinsen: habt ihr uns imitiert, aber perfekt). Und dann ging's los, jede Klassenstufe ihr Spiel. Nun könnte man ja meinen, Pubertierende rollen dann einfach müde mit den Augen, und das wars. Eure Spiele aber waren einfach nur Klasse. Wagenrennen, Bierpong, das Rüsselspiel, der etwas andere Staffellauf, und der adaptierte Eierlauf. Mensch, ich hatte schon vergessen, dass 11-bis-17-jährige juchzen und jubeln und kreischen und engagiert kämpfen können, ohne sich dabei peinlich zu fühlen. Wahrscheinlich haben sie sich so ungehemmt darauf eingelassen, weil ihr es ihnen vorgemacht habt. Und weil eure Spiele wirklich großartig kreativ waren. Wir Lehrer standen einfach nur kopfschüttelnd staunend, wie ihr unsere Schülerscharen zu nehmen, packen und begeistern vermochtet.

Und am meisten beeindruckt mich, dass ihr, wie es schien, ALLE beteiligt wart an dieser Aktion. Dass ihr sie gemeinschaftlich geplant und durchgeführt habt, euer ganzer Jahrgang. Und rührend, wie ihr anschließend zerknirscht euer Bedauern geäußert habt, dass beim großen Sportplatzevent keine Extrastation für die Lehrer dabeigewesen wäre, das hättet ihr irgendwie vergessen. Nee nee, war schon gut so. Ein bisschen Aufsichtspflicht mussten wir ja doch wahrnehmen (obwohl ihr auch hierbei wieder umsichtig, verantwortungsvoll und reif wart), und wir hatten wirklich Freude an den Schülerstationen. Wagenrennen und Bierpong, ich zum Beispiel.

Ehrlich: Euer Abistreich war ein Geschenk. Auf ner Skala von 1 bis 10 geb ich mal 12 Punkte. Und sage: Dass ich das noch erleben durfte. Wir engagieren euch als Coaches für die Abistreiche künftiger Jahrgänge.

Und nun geht gut ins Leben hinaus. Es ist natürlich ein bisschen schade - es war gerade so schön mit euch. Aber ihr seid eben reif. Und WIE reif ihr seid! Wir wünschen euch von Herzen, dass ihr in euer "echtes" Leben ebenso kreativ und bunt startet, dass ihr andere Menschen ebenso begeistert und mitreisst wie gestern, dass ihr die Umsicht und Verantwortung weiterlebt, die ihr hier zum Abschied gezeigt habt, dass ihr euch verschenkt mit allem, was ihr zu geben habt. Das ist eine Menge. Ja, ihr seid für uns ein Geschenk gewesen.
Und ich wünsche euch, dass ihr in eurem Leben die Freude weiterlebt, die ihr mit uns gestern geteilt habt. Auch wenn diese im Leben zuweilen stillere Formen annehmen wird - möge sie euch nie ganz verloren gehen!

Wir werden euch vermissen. Vorher aber stoßen wir noch an, übermorgen auf dem Abiball. Auf die vier Jahre, die ich euch unterrichten durfte. Und auf die vielen Jahre, die jetzt vor euch liegen. Und sollten uns noch mehr Gründe zum Anstoßen einfallen - gern! Ich komm extra nicht mit dem Auto.

Ihr seid toll. Nur damit ihrs wisst.
Eure Frau Rebis
(die jetzt ein Tränchen im Auge hat)

Montag, 22. Juni 2015

Vor drei Wochen - Tag 3: Malliß - Parchim


Warum heißt es eigentlich "bitterkalt", nicht "zitterkalt"??? Fast friert mir in der Nacht die Nase ab. Ich krieche so tief in meinen Schlafsack, dass ich mich am Morgen selbst kaum finde. Später werden mich besorgte Wohnmobiltourende ansprechen: sie hätten sich gesorgt, ob meine Hütte denn beheizt gewesen sei. Sind anscheinend froh, mich lebend wiederzusehen:)




Nun, draußen scheint die Sonne, und ich jubiliere, meine Warmduschmarke noch nicht verbraucht zu haben. Drei Minuten, Schnellauftauprogramm. Im Campingplatzwaschraum ein olfaktorisches Déjàvu: dieser gemischte Zahnpastageruch, Kindheitsgefühle.

Auf dem kleinen Kocher entsteht mein Kaffee, ich lebe auf. Mein Geraffel hat sich über Nacht vervielfältigt und braucht zwei Stunden, bis es wieder in den Packtaschen verschwunden ist.
Abschied vom Kanal erst gegen 10 - dabei wollte ich auf dieser Tour früher dran sein. Es wird mir bis Berlin nicht gelingen ... das ist dann eben so.




Den Tagesstart - ich wage es kaum zu sagen - fahre ich auf dem Radweg verkehrtherum. Wer nimmt schon von der Elbe zur Müritz die nordwestliche Richtung? (Nur der Radweg eben.) Als ich's merke, kann ich nur noch über Landstraßen korrigieren. Weil Sonntag ist, bleibt das erträglich. Und als ich ihn dann habe, den Mecklenburger-Seen-Radweg mit seinem Herummäandere, kommt er sehr bequem daher. An jeder Ecke ein orangefarbenes Pfeilchen, keine Probleme mehr mit fitzelkleinen Karten und leeren Naviakkus.

Sehr verschlafener Landstrich hier. Mecklenburg, wie ich es aus der Kindheit kenne, gesteigert noch durch den Sonntag. Fast wünsche ich mir mehr Autos, um das vertraute Kopfsteinpflastergeräusch häufiger zu hören:) Ich selbst muss übrigens selten kopfsteinpflastern, denn an den Seiten ist meist ein 1-m-breiter Streifen asphaltiert. Der Radwanderer dankt.

Pause auf dem Dorfplatz - so still, wie sie hier wirkt. Die nichtdokumentierten Wegstücke sehen nicht anders aus. Leergewohnt, scheint es.






Erst in Ludwigslust, welches meine Erinnerung fälschlicherweise mit dem IFA W50 verknüpft (aber mit "Ludwigs..." war da was), treffe ich auf Zivilisation. Und zwar mal wieder auf vergangenheitsgeschwängerte: eine Konsum-Kaufhalle! Sprich: Kónnsumm - Betonung auf der ersten Silbe. Bei meiner Oma kauften wir immer im Konnsumm ein und klebten ferienlang Konnsumm-Marken, dicke Hefte voll, so war das.




Einmal umgedreht, Blickrichtung gewechselt: Solch ein Blick. Zwei Orte auf einer Straße, das glaubt man kaum.




Und dann öffnet sich vor mir der Schlosspark. Angenehmer kann Mittagspause nicht sein.








Ich tanke optisches Grünbehagen, bevor Neustadt-Glewe dann eher prosaisch daherkommt und mit seiner Milchkaffeewartezeit von gefühlt 45 Minuten und seinem grauen Himmel über grauer Landschaft alles dafür tut, dass sich in mir Traurigkeits-Staubmäuse zusammenballen.






Heute fühle ich Gegenwind sogar dort, wo Windfähnchen lotrecht nach unten zeigen. Kinder-Vermiss-Tag. Letztes Jahr war ich immer mit einem von ihnen unterwegs. Wie gern hätte ich auf diesen einsamen Straßen jetzt jemanden an meiner Seite, der Worträtsel oder Fantasiegeschichten mit mir spielen möchte. (Wie war ich letztes Jahr genervt angestrengt davon ...)




Auf dem Müritz-Elde-Kanal (??? das D ist korrekt, aber der Kanalname?) schleicht ein Bootchen unter mir durch. Seine Insassen fläzen sich an Deck. Warum eigentlich lasse ich mich nicht strickend durch Mecklenburg schippern? Ernsthafte Frage an mich selbst. Mentales Schwächeln.




Aber der Mensch braucht vielleicht einfach nur Sonne, ein Fünkchen Licht. Sobald das Grün gegen Abend ein wenig heller leuchtet, klart es sich auch in mir auf. Hier, an diesem lichten Kanal hätte ich bleiben sollen, stelle ich im Nachhinein fest. Hier war ein Zeltplatz, hier war es gut.




Während ich in Parchim am Straßenrand hocke und mir die Finger wund telefoniere. Die Jugendbegegnungsstätte hat den ganzen Tag nicht zurückgerufen, das Sportlermotel hat sich in Luft aufgelöst, bei den Ferienwohnungen geht niemand ans Telefon, und der Gasthof ist "heute geschlossen" (wie kann ein Gasthof = Hotel "heute geschlossen" sein?). Bis zum nächsten Campingplatz sind's 20 km, einfach so das Zelt irgendwo aufzuschlagen traue ich mich nicht. Eine einzige Telefonnummer bleibt auf meiner Liste ...




... und die haben noch genau ein Zimmer. Puh. Sogar mit Ausgang zur Frischluft und nicht die Reisekasse ruinierend. Parchim, das hast du ja gerade nochmal hinbekommen.




Den Abend verschlendere ich in den Gassen. Der Rest vom Fest. Die abbauschuftenden Schausteller (als ob sie morgen schon woanders sein wollten?), ein paar müllsammelnde Bedürftigmenschen, und ich. Gespenstisch. Selbst in der Kneipe, die mir ein Abendessen kocht, bin ich die einzige Gästin. Ich gehe dann wohl lieber ins Bett.


Samstag, 20. Juni 2015

Vor drei Wochen - Tag 2: Lüneburg - Malliß

Nach dem Lüneburgtag treiben mich Fernweh und Reiseziel früh aus dem Bett. Ich glaube letzteres hatte ich noch gar nicht erwähnt: Es geht nach Berlin, mit einem Schlenker über die Müritz, die ja nicht gerade auf dem Weg liegt. Ohnehin führen Radwege meist mäandernd durch die Welt, so dass ich den Termin Ferienende im Auge behalten muss. Aber jetzt erstmal los.

Die Freundin zeigt mir einen Schleichweg zum Kloster Lüne, wobei sich "Schleich" nicht auf ihre Geschwindigkeit bezieht. Sie, Sportlehrerin, pures Federleichtrad, prescht mir davon. Ich muss zusehen, meinen wankenden schwankenden Gaul erstmal in den Griff und auf Tempo zu bringen. Bis zur nächsten Ampel, die immer dort steht, wo es gerade zu rollen beginnen wollte. Ja, das Campingzeug packt einige Kilos drauf, Statik und Kraftaufwand fordern Gewöhnung.

Als wir uns am Stadtrand zum Abschied umarmen, habe ich mich jedenfalls gut warmgefahren und werde von der Freundin beneidet. (Wie vermutlich von jeder working mum, wenn auch nicht jede ihre Kinder-Arbeits-Auszeit auf diesem Fortbewegungsmittel nehmen würde.)

Da ist zunächst ein Schiffshebewerk am Weg. Als nicht besonders technikaffiner Mensch lasse ich es links liegen bzw. fahre ungerührt drunter durch.






Dann Regenschauer, wie sollte es anders sein. Heute häufig und jeweils so kurz, dass ich, kaum ist die Kamera herausgeholt, schon wieder die Sonne auf dem Bild habe. Macht nix.






Eine Elbüberquerung auf stiefmütterchenverzierter Fähre ...




... Begegnung mit der Vergangenheit ...






... und diese lustigen Stühle am Wegesrand. Hier probiere ich, nachdem ich schon etliche habe vorbeiziehen lassen, doch mal einen aus. Ich glaube, es ist der gleiche Typ Stuhl wie in meinem Lehrerzimmer. Schnell weiter, mit den Gedanken, und mit dem Rad.











Der Himmel sieht harmlos aus, gell? Ich verstehe selbst auch nicht, wie sich hinterrücks so schnell so heftige Hagelwolken anschleichen können. In Darchau erwischt es mich. Das einzige Gasthaus hat "geschlossene Veranstaltung", die Bäume reichen nicht vorn, nicht hinten zum Unterstellen, und unter das einzige Haltestellendach haben sich bereits zwölf Radfahrer gekuschelt. Weil es sich einhagelt, wechsle ich auf  die andere Seite, habe das dortige Gasthaus für mich und schlürfe eine Hühnersuppe (und würde am liebsten meine Füße drin wärmen - bitte nicht bildlich vorstellen:)).




Gern würde ich gleich südlich der Elbe weiterfahren, doch der Weg ist mir zu lang und zu hügelig, der anvisierte Zeltplatz noch zu weit weg. Vielleicht quere ich auch nur deswegen zurück, damit ich den Spruch des Fährmanns abgreifen kann: "Na, hatt'et Ihnen im Westen nich jefallen?" Die Vergangenheit lugt um jede Ecke.




Und weiter geht's ...




... bis zum nächsten Hagel.
Große starke Bäume halten relativ lange dicht. So lange jedenfalls, bis ich mich komplett in meine Mondmontur gewickelt, ein Augen-zu-und-durch beschlossen und mit dem Zeltplatz telefoniert habe. Ob ich dort auch nach 20 Uhr was zu essen bekomme. Die Stimme am anderen Ende verspricht mir eine der freien Radfahrerhütten und Nahrung auf jeden Fall: "Bekomm'n wa hin."




Mittlerweile ist der Regen am Abziehen und kommt - weil ich die Montur anbehalte - auch nicht mehr zurück. Guter Trick. Nur schweißtreibend. Das Attribut "atmungsaktiv" gehört verboten.






Es ist schön in diesem Landstrich. Das klingt etwas platt, trifft aber so ziemlich den Kern, wie ich finde.

Und es ist einsam. Sicherheitshalber, falls die Essenversprechstimme mich doch getäuscht hat, würde ich gern noch etwas einkaufen. Das Handy zeigt eine Horde Supermärkte in Dömitz an. Dieses Nest ist so klein wie unbekannt, ich beäuge aus der Ferne den Kirchturm und die dreieinhalb über die Schafswiesen hinausragenden Dächer und beschließe, dieser Information nicht zu trauen.




Und dass ich statt dessen die Direttissima längs der Bundesstraße nehmen sollte, um den 20-Uhr-Zeltplatztermin zu schaffen.
Aber siehe da, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet ...
Ein Fehler, hungrig einzukaufen. Was bleibt mir anderes übrig. Einige der gehamsterten Lebensmittel werden die Packtaschen erst in Berlin wieder verlassen.

Uff. Ernährung gesichert. Die letzten Meter führen über eine alte DDR-Panzerstraße und am Bahnhof Malliß vorbei. Beide haben ihre Funktion weitestgehend verloren. Statt Zügen wohnen hier Menschen, und der Panzer bin heute ich. Gewichtsmäßig vielleicht. Reifenbreite aber suboptimal. In meinem nächsten Leben wünsche ich mir ein Navi mit Straßenbelagsangabe. Kann in Zeiten von goo.gle.street.view doch nicht so schwer sein.




Wie aus dem Nichts dann plötzlich vor mir: ein Kanal, eine Wiese, eine Rezeption. Der Himmel sozusagen. Und eine Hütte, eine Hütte! Zwar nicht vor Kälte, aber vor dem nächsten Hagel schützend. (Und natürlich: weil ich jetzt einen Unterschlupf habe, kommt kein Hagel mehr nach. Immer wieder Regenschirmtrick.)




Himmel Teil 2: Das versprochene warme Essen steht bereit. Zusammen an einem Tisch mit den anderen wackeren 7°-Campern, die auf Drei-Monate-Hausboottour, auf Sechs-Wochen-Elternzeit-Europatrip, auf Vier-Wochen-Seenrundfahrt sind. In jedem der Gespräche wacht ein anderer Zipfel meines Fernwehs auf. Das ist schon absurd, so auf dem Weg zu sein und immer noch nicht genug zu bekommen  ...