Montag, 31. Oktober 2011

Studentenstadtausflug

Eine Woche sind die Kinder weg, eine Woche im Oma-Opa-Berlin-Urlaub. Eine Woche habe ich hier zu Hause nur für mich, kann tun und lassen was ich mag. Ganz so wie damals im Studentenleben. (Und seither kaum je.)

Ich nehme den ersten Abend und fahre mit dem Bus in die Stadt. Doch, ja, manchmal war ich fahrradfaul, und wir hatten ja eh das Semesterticket. Stehe also lesend an der Bushaltestelle - wie damals. Fahre die altvertrauten Wege, ins Zentrum hinein, die Lichter am Fluss, der Umsteigeplatz. Er hat bis heute den Charme einer Bahnhofshalle. Wie verloren ich mich auf ihm fühlte, anfangs, und lange noch. Immer wenn ich nach der Abendvorlesung im Werbelichtermeer stand und auf meine Tram wartete. Oder auf meine Verabredung. Oder mein Fahrrad über den Platz schob.
"Damals": das war genau vor 20 Jahren, fällt mir bei dieser Gelegenheit ein. Wintersemester 91/92, in den späten Oktobertagen, da begannen meine Wege in dieser Stadt.

Die Hauptstraße. Schon damals wunderte ich mich, warum sich all die Leute am Sonntag auf ihr entlang wälzen. Schaufensterspaziergänger zu Tausenden. Heute bin ich eine davon. Die Schaufenster sind lang nicht mehr die gleichen. Mehrfach ausgetauscht über die Jahre. 1-Euro-Ketten haben Einzug gehalten, Fastfood-Dominanz, und allerorten das Schild "Räumungsverkauf". Das gab es damals noch nicht - oder schaffe ich mir eine Vergangenheitsidylle?

Vorbei am Institut, das damals meinen Neid erweckte. Weil die, die in ihm studierten, meinen Kindheitstraum leben durften. Heute bin ich froh, dass es dazu in meinem Leben nie gekommen ist. Vorbei am nächsten Institut, in dem wir unsere Zeit absitzen mussten. Pflichtscheine, inhaltlich überflüssig, meine ich bis heute - nichts habe ich aus diesem Haus für meinen Beruf nach Hause gebracht. Nuja, wir haben diese Seminare mit Humor genommen, haben etwas anderes aus ihnen gezogen. Wie wir als Lehrer mal NICHT werden wollen ... vielleicht also war es doch fruchtbar, dort, in jenem Institut.

Ich laufe weiter, schaue den Entgegenkommenden ins Gesicht. Denke immerzu, dass ich jeden dritten kennen müsste. So lange wie ich hier war, so viele Chöre, so viele Studienkontakte. Und mittlerweile so viele Schüler. Suche nach bekannten Gesichtern, doch selten genug finde ich eines in der Menge. Und meist kann ich es dann keiner Situation mehr zuordnen. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit.

Nächste Ecke. Kaum finde ich die Straße, in der die Freundin wohnt. Die Geschäfte sind alle neu - jetzt also umlernen: beim Schuhladen einbiegen. Ihr Treppenhaus dagegen ist das alte. Der Geruch, das Knarren. Und oben der Küchentisch unter den Dachbalken. Abende- und nächtelang teilten wir hier Gespräche beim Wein. Heute zunächst Tee - den Wein werden wir erst nach dem Konzert trinken. Eine Vertrautheit wie damals. Wie oft, wie oft saß ich hier ...

Später vor der Kirche, klar, da sind sie, die bekannten Gesichter. Chorsänger, die dieses Projekt ebenfalls nicht mitgeprobt haben, auch nach einer Karte anstehen. Selten war ich Zuhörerin in dieser Kirche. Fast alle "meine" Chöre hatten hier ihren Konzertort. An die 100mal werde ich hier gesungen haben.
Heute stehe ich nur in der Kartenschlange. Zu viele schulische Termine in letzter Zeit, zu viele Proben habe ich versäumt, als dass ich guten Gewissens dort mit auf dem Podest stehen dürfte. Das ist mir im Studium nie passiert.
Und als mich in der Schlange noch eine Frau anspricht - "Ich bin die Mutter von Felicia ..." - da bin ich wieder in der Jetztzeit angekommen. Studentisches Gefühl vorbei. Stimmt ja, ich bin "erwachsen", bin Lehrerin - aber über Felicia und meinen Matheunterricht mag ich heute nicht reden. Zum Glück finden wir ein anderes Thema ...

1 Kommentar:

  1. Das stelle ich mir schön vor....diese Vergangenheits- und Doch-nicht-Gänge....

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