Freitag, 20. November 2009

Zensur vs. Seelsorge

Wenn eine Praktikantin in einer Klasse, in der sie eine zeitlang unterrichtet hat, einen Feedbackbogen über ihren Unterricht und ihr Auftreten ausfüllen lässt,
und wenn ich ahne oder weiß oder mitgeteilt bekomme, dass die Schüler, die lieben kleinen, diesen nutzen, um ihre Meinung mit netteren ("scheiße angezogen", "saugeile Titten") oder weniger netten (ähm ... die schreibe ich jetzt hier mal nicht auf) Formulierungen zum Ausdruck zu bringen
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Soll ich dann:

a) die Bögen erstmal einer Zensur unterwerfen, bevor ich sie der Praktikantin zurückgebe, um diese zu schonen?

oder

b) sie der Praktikantin aushändigen, aber gleich ein seelsorgerliches Gespräch führen, dass sie es nicht persönlich nehmen solle?

oder

c) sie ins offene Messer laufen lassen, getreu dem Motto: Wenn sie das nicht aushält, ist sie für den Lehrerberuf sowieso nicht geeignet?


Für jede Meinung bin ich dankbar.


Auch wenn es für diesmal schon zu spät ist:
Die Praktikantin hat die Bögen schon, unzensiert, ich war naiv genug, die Klasse schreiben zu lassen und es unbesehen weiter zu reichen. Erst hinterher kam eine Schülerin mit Tränen der Angst (und der Reue?) zu mir, weil jemand anderes auf ihren Bogen vor der Abgabe noch etwas draufgeschrieben hätte ...
Ich konnte in einem geduldigen Gespräch herauslocken, was auf den Zetteln steht, und wer es geschrieben hat. Vermutlich ist das nur die Spitze vom Eisberg, denn die Klasse weist - ich nenne es mal so, wie ich es jüngst in einem anderen Lehrerblog sehr treffend formuliert fand - schon eine ziemliche "Persönlichkeitsdichte" auf.
Was wir (Klassenlehrerin und ich) nun mit den Schülern machen, steht auf einem anderen Blatt.
Fakt ist: Die Praktikantin sitzt jetzt vermutlich fassungslos mit den Rückmeldungen zu Hause. Die Arme.

6 Kommentare:

  1. aha, du liest auch bei frau freitag- schön!
    als mentorin, die ich lange zeit war, hätte ich es ebenso gemacht wie du- wäre aber wahrscheinlich über meine spontane, naive handlungsweise später erschrocken und hätte mir ganz ähnliche gedanken gemacht.
    aber lass sie bitte nicht allein damit! ihre gedanken könnten in falsche richtungen gehen...ist nicht der richtige beruf für mich oder so. vielleicht ist sie schon stark genug, nimmt es nicht persönlich, denkt: die spinnen wohl, kennt sich mit pubertären gehirnwindungen aus- man weiß es nicht- so lange nicht, bis DU dich mit ihr in verbindung setzt!! ich finde das dringend angeraten. gruß von sonia

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  2. Hallo, ich bin gerade selber im Praxissemester... und ganz ehrlich, ich würde mich aufregen, wenn da jemand für mich zensieren würde! ;-)
    Darüber reden ja, gerne, aber ich will dann schon alles sehen. Muss ja wissen, wie ich auf die Klasse wirke. Und ganz ehrlich: an manchen Kommentaren wie "sch... angezogen" ist ja meistens auch was dran, daher kann es ja nur nützlich sein. Und manche Sachen... nun, da muss man sich wohl rechtzeitig ein hartes Fell zulegen - besser jetzt als später, wenns wirklich drauf ankommt! :)
    Übrigens, darf ich der Neugierde halber mal fragen, was auf diesem Bogen so drauf stand? Bin nämlich am Überlegen, das auch in meinen Klassen zu machen, weil es mich wirklich interessiert, wie ich auf die Klasse wirke...
    Viele Grüße

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  3. Danke Euch beiden - ich antworte heute abend noch ausführlich, wenn ich Zeit habe. Inzwischen habe ich jedenfalls einen der Bögen gesehen und mit der Praktikantin gesprochen ...
    Gruß
    Uta

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  4. Ja, ich denke auch, einfach die Bögen rausnehmen ist natürlich keine Lösung. Andererseits sind diese "Rückmeldungen" eindeutig zur Demontage gedacht, liefern also keine Information darüber, wie sie auf die Klasse wirkt (wörtlich stand da z.B. "hässlich", "dumm").
    Ich habe mit ihr gesprochen, und sie hat das - soweit ich es spüren konnte - auch ganz richtig eingeordnet. Von außen gesehen.
    Von mir selbst weiß ich allerdings, dass es lange Zeit dauern kann, bis man auch im Innern so richtig und ohne sich verletzen zu lassen, damit klar kommt. Mir halfen Gespräche mit Mentoren sehr, weil ich merkte, dass ich nicht allein bin, aber letztlich musste ich doch allein dadurch, mir diesen "Panzer" zuzulegen. Es ist ja nicht wirklich ein Panzer, sondern irgendwie andere Augen für die Kinder/Jugendlichen. Warum schreiben die sowas, was drücken sie damit aus, warum ist wirklich nicht mein Ich damit gemeint etc.
    "Meine" Praktikantin ist auf diesem Weg, soweit ich sehen kann, schon ziemlich weit. Bin richtig beeindruckt.

    @kathapicco:
    Wie gesagt, das waren Beleidigungen, keine echten Rückmeldungen. Ich bezweifle, dass wirklich an allem was dran ist - selbst bei der Kleidung. Ich meine nicht, dass wir uns so kleiden sollten, dass die jungen Menschen das "cool" finden, sondern so, dass das ICH bin, die da steht. Vollkommen ich in meinem Stil, dann passt es, nur dann ist es authentisch - wie seltsam das für die auch ausschauen mag. Ich buhle ja nicht um Freundschaft, sondern stehe auf der anderen Seite des Tisches, bin in der gegenüberliegenden Rolle. (Aber vielleicht bin ich jetzt über das "hinausgeschossen", was Du meintest.)
    Wir haben z.B. einen emeritierten rumänischen Mathematikprofessor als Lehrbeauftragten an der Schule: menno, da musste auch ich schmunzeln, als ich ihn erstmals sah (alle Klischees etwa über Matheprofessoren sind erfüllt). Solche "Marotten" haben wir alle, dürfen und sollen von den Schülern auch gern kommentiert werden, aber eben nicht unter der Gürtellinie.
    Zum Rückmeldebogen: den aktuellen jetzt habe ich nicht hier, liegt in der Schule.
    Bei meinen eigenen früher (und auch jetzt mache ich das gelegentlich) hat sich der Fokus der Befragung immer mehr verschoben von "meine Wirkung" zu sachlichen Aspekten der Unterrichtsgestaltung.
    Möchtest Du die Schüler wirklich fragen: "Wie sicher wirkt mein Auftreten?" oder so ähnlich? - hältst Du die Antwort aus? Ich hätte mich das anfangs nicht getraut. (Schüler sind sehr sehr ehrlich bei so etwas, ehrlicher als - fast - jeder Mentor ;-))
    Ich empfinde ich als schwierig, meine Persönlichkeit von Schülern bewerten zu lassen - wie vorhin gesagt: Ich bin wie ich bin, alles andere ist nicht authentisch.
    Mein Lehrerverhalten dagegen sollte ich der kritischen Außensicht durchaus aussetzen.

    Mein erster Feedback-Bogen enthielt fast nur Skalen mit 5 Ankreuzmöglichkeiten und immer noch Platz für verbale Kommentare, und zwar zu folgenden Rubriken:

    Interesse am Fach / Lernerfolg /Steigerung des Interesses bzw. des Wissens/der Fertigkeiten

    Themen und Inhalte spannend vs.uninteressant / Herangehensweise abwechslungsreich vs. langweilig

    Gestaltung des Unterrichts abwechslungsreich /Dominanz der Lehrerin / Wunsch nach mehr eigener Aktivität / Schwierigkeitsgrad

    Hausaufgaben / Tests / Bewertung / Gerechtigkeit / Fairness

    Atmosphäre im Unterricht entspannt vs. angespannt, konzentriert vs. abschweifend.

    War jetzt für mich selbst interessant - über meine eigene Person habe ich also gar nichts gefragt.

    Viel Erfolg noch in den letzten Wochen, und später einen guten Berufsstart
    Uta

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  5. so ein schriftlicher bogen bietet platz für ausufernde unflätigkeiten
    da halte ich eine blitzlichtrunde am stundenende für geigneter
    ins gesicht sagt kind solche sachen nicht
    ausser naja manche schon aber das sollte einen dann nicht schocken
    diese kinder sind so im freien fall dass nichts sie halten kann

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  6. Also ich hätte b) vorgezogen...

    Mich macht immer wieder fassungslos, wie die Kinder zu dieser Art "anonymer Rache" kommen - anders kann ich es nicht bezeichnen. Kommt das daher, daß sie da dann endlich dem Ohnmachtsgefühl ein Ventil gefunden werden kann? Schließlich schallt es ja aus dem Wald heraus, wie es hineinschallt, wie man so schön sagt. Könnte es sein, daß die Kinder im Schulalltag so wenig Möglichkeiten haben, ihre Meinungen und Befindlichkeiten kundzutun, daß dann bei solchen Befragungen das Faß einfach überläuft?

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