Dienstag, 17. November 2009

Vor nunmehr einer Woche ...

... und zwanzig Jahren stand die Mauer nicht mehr. Vor einer Woche und zwanzig Jahren war der Tag gekommen, dass wir da draußen in Moskau es auch endlich erfahren durften.

Ich kann mich nicht erinnern, woher ich gerade kam, als am Ende des langen Ganges die Menschentraube vor der DDR-Wandzeitung mich vermuten ließ, dass etwas Besonderes geschehen sein musste. Ich weiß nicht mehr, von wem und mit welchen Worten ich es dann erfahren habe.

Mir bis heute aber gegenwärtig: meine Ungläubigkeit in dem Moment. Absolute Ungläubigkeit. Ein einziges Kopfschütteln: „Das kann nicht sein.“
Und dann Skepsis: „Morgen ist sie wieder zu.“
Und ein – jetzt vermutlich unverständliches – „ach nein“, mit einer gewissen Enttäuschung verbunden.

Sagte ich ja kürzlich schon, dass wir da draußen in Moskau Träumer waren, gewissermaßen. Hatten wir doch nicht täglich 7 Fernseh-, 17 Radionachrichten, 10 Zeitungen und 3 Demonstrationen zu „absolvieren“, blieb uns doch tagsüber und abends ausreichend Zeit, all die unerwarteten Vorgänge in der Heimat – soweit wir davon wussten – zu diskutieren. Blieb uns doch genug Zeit für Utopien über den nun einzuschlagenden „dritten Weg“, eine alternative Gesellschaftsform, die wir nun gemeinsam aufbauen wollten.
Dieser Traum von einem eigenständigen Land war in diesem Moment ausgeträumt. Das war uns blitzartig klar, während wir da noch an der Wandzeitung standen.
(Später gab es so eine Art Witz, dieser spontane Schabowski-Satz á la „denn sie wissen nicht was sie tun“ auf der Pressekonferenz sei der letzte Racheakt der alten DDR-Führung gewesen, damit sich nur keine neue Regierung halten könne ...)


Tja, aber unabhängig davon: Wie fühlte sich die neue Tatsache an?

Zunächst mal war da natürlich Bedauern, den Freudentaumel nicht miterleben zu können. Dieses steigerte sich später noch, als ich Filmaufnahmen von der Grenzöffnung, vom riesigen Straßenfest dieser Nacht, vom tränenüberfluteten Tanz der Menschen auf der Mauer sah. Es tut mir bis heute ein wenig leid, diesen besonderen Tag in meiner Stadt Berlin nicht miterlebt zu haben.

Das Bedürfnis, nun sofort nach Hause zu fliegen, um meinen Fuß auf die andere Seite der Grenze zu setzen, verspürte ich allerdings nicht. Einige von uns taten das, wohl schon am nächsten Wochenende, einfach um einmal „drüben“ gewesen zu sein. --- Seltsamerweise habe ich völlig vergessen, ob ich mich je mit jemandem, der von einem Besuch der „anderen Welt“ zurückgekommen war, über seine Eindrücke unterhalten habe. Nein, daran mag ich mich nicht erinnern.

Ich selbst blieb, wie viele andere, ganz ruhig in Moskau bis zum Ferienbeginn Ende Dezember. Allerdings kam bei uns das Gerücht auf, man dürfe die Grenze nur mit gültigem Visum übertreten, und dieses wiederum erhalte man nur auf Antrag und nach einer gewissen Bearbeitungsfrist – am Wohnort. In Moskau also. Und so kommt es, dass sich in meinem letzten (und im übrigen einzigen) DDR-Personalausweis dieser Visums-Stempel findet, mühsam errungen, denn in unserer Botschaft wollte sich zunächst niemand für zuständig befinden zur Erteilung eines solchen. Ob ich ihn jemals benutzt habe, weiß ich nicht mehr. Im Dezember ging man wohl schon per Durchwinken rüber, und im Juli 90, als wir aus Moskau zurückkamen, war der Stempel ebenso überflüssig wie ungültig ...





Im Dezember also war ich erstmals „drüben“. Nach zweitägiger Zugfahrt am Abend des 27. am heimatlichen Abendessenstisch gelandet, interessierte mich Westberlin zunächst überhaupt nicht. Es gab ja so viel anderes zu erzählen und zu sehen. Und ich hatte wohl auch Respekt vor diesem Schritt auf die andere Seite. Doch die Familie überredete mich, schon um noch das Begrüßungsgeld für dieses Jahr zu holen. (Noch wussten wir ja nicht, dass schon ein halbes Jahr später …)

So lief ich am Morgen des 28. zu Fuß genau über den Grenzübergang, auf den ich von meinem Kindheitshochhaus auf der Fischerinsel ein Leben lang geblickt hatte. Ich muss gestehen: es ging nicht ohne Tränen. Von meinen stundenlangen Wegen durch die Stadt habe ich vor allem in Erinnerung, wie bunt und geleckt mir alles schien (selbst in Kreuzberg). Das Gefühl der Fremdheit, das Gefühl im Ausland zu sein. Abends an der Friedrichstraße: Puh, endlich wieder zu Hause.

Das Postamt, auf dem ich mein Begrüßungsgeld abholte, würde ich heute nicht mehr erkennen. Aber was ich dort mitansehen muss, hat sich mir eingebrannt: dass Menschen ihre nur wenige Stunden alten Neugeborenen anschleppen, um für sie die 100 Mark zu bekommen, hatte man mir schon erzählt. Dass auch die alte Mutter, welche sich nicht mehr auf den Beinen halten kann, welche nur noch wimmert „lasst mich doch“ deswegen zum Schalter gezerrt wird – das war entsetzlich.

Mein Vater erzählte mir später fast noch Schrecklicheres: Wie an den kalten November- und Dezemberwochenenden die Menschen aus dem ganzen Land nach Berlin kamen, um Westberlin zu besuchen und dann abends vor lauter – ja, was eigentlich? – ihren letzten Zug verpassen. So dass sie auf dem Bahnhof sitzen und dort übernachten müssen. Darunter auch Familien mit kleinen Kindern!!! --- Sie nahmen wenigstens die Familien mit und boten ihnen einen warmen Schlafplatz im Gemeindesaal – wenn schon die Eltern nicht verantwortungsvoll für ihre Kinder sorgen …

Einige Male noch war ich im Januar in Westberlin, allein oder mit Freunden. Als Touristen suchten wir all die Orte auf, deren Namen und Straßennamen mir durch RIAS und SFB vertraut und immer doch unerreichbar gewesen waren. Immer wieder durchzuckte mich diese Ungläubigkeit, dieses „kneif mich mal, ich glaub, ich träume“.


Zwanzig Jahre ist das her. Mittlerweile ist viel geschehen, die Euphorie ist Ernüchterung und Enttäuschung gewichen, vielerorts. Vor allem die Generation meiner Eltern hatte es in der Folgezeit, bis heute eigentlich, alles andere als leicht. Verlust von Vertrautem, Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeit. Ja, schwierig.
Und dennoch werde ich immer ganz ungehalten, wenn mir solch nostalgische Rückschau begegnet, von wegen: „Das hätt‘s bei uns in der DDR nicht gegeben.“ Wenn beharrlich das Trennende betont wird, wenn ich bis heute gefragt werde, wie es mir im Westen gehe, wenn ich mich bis heute wie ein Dolmetscher zwischen den Welten fühlen muss, weil die Mauer in mancher Hinsicht höher ist als in der ersten Zeit.

Natürlich, ich habe es leicht zu sagen, es ist gut so wie es ist. Für mich kam der Mauerfall genau zum rechten Zeitpunkt. Ich war alt genug, um die Vorgänge bewusst mitzuerleben (wofür ich sehr dankbar bin – das erlebt man wohl im Leben kein zweites Mal), und ich war jung genug, um mich ohne größere Probleme im neuen Leben einzufinden, irgendwie.

Und doch – egal welcher Generation wir angehören – wir sollten dankbar sein.

Ich jedenfalls bin äußerst dankbar, dass ich ...
... nach dem Studium nicht auf einer verordneten Absolventen-Planstelle festsaß und dort eine „Führungsposition in der Zivilverteidigung“ übernehmen musste, wie es für alle Studierten vorgesehen war,
… nicht einen Trauschein vorweisen musste, um eine Wohnung zu bekommen und nicht mehr „Fräulein“ genannt zu werden (war man noch in der zweiten Zwanzigerhälfte ein solches, wurde komisch geschaut – man war wie gebrandmarkt, so empfand nicht nur ich es),
… letztlich doch noch Lehrerin werden konnte, ohne mich täglich verbiegen und selbst verraten zu müssen dabei.

Noch viel dankbarer aber bin ich für meine Kinder, dass sie ...
... im Sportverein Sport treiben können, ohne sich gleich für Leistungssport und Olympiavorbereitung zu entscheiden,
... in keinem Wehrunterricht mehr Uniformen tragen müssen,
... Staatsbürgerkunde und Fahnenappelle im Blauhemd nur aus dem Geschichtsbuch oder meinen Erzählungen kennen lernen werden,
… in der Schule kein Luftgewehr in die Hand nehmen müssen,
... keiner Klassenlehrerin ausgesetzt sind, die alle die Kinder „Wer von euch geht denn in die Kirche?“ nach vorn kommen lässt und die Klasse auffordert „Und jetzt dürft ihr alle mal kräftig lachen.“
... nicht zu Hause immer wieder Dinge zu hören bekommen, von denen sie genau wissen, dass sie die in der Schule nicht erzählen dürfen,
... nicht zu Staatsbesuchen und Maidemonstrationen verordneterweise jubeln gehen müssen,
... ihre Mitschüler nicht mit einem grundsätzlichen Misstrauen beäugen müssen, ob sie diesen den Witz nun erzählen können oder nicht.

Ja, dieses Misstrauen war das Schlimmste. Das stellten wir vor zwei Jahren auf unserem zwanzigjährigen Abitursklassentreffen während einer sehr intensiven nächtlichen Gesprächsrunde fest. Erstmals tauschten wir uns aus, wie sehr man uns dazu gebracht hatte, uns gegenseitig zu beäugen und zu misstrauen. Dass wir zwar Freundschaften und Beziehungen über die Fronten der politischen Gesinnung hinweg lebten, aber auch in diesen stets ein letztes Stück Verschlossenheit blieb – bleiben musste?
Seit diesem Klassentreffen reagiere ich noch ein Stück allergischer, wenn doch damals dies und das nicht so schlimm und dies und das sogar viel besser als heute gewesen sein soll. Nein! In dieses Misstrauen will ich niemals – niemals! – zurückkehren.
Und wie gut, heute zu erleben, dass das, was damals als Trennendes zwischen uns geschoben worden war, das Ideologische, heute keinerlei Bedeutung mehr hat, dass die wirkliche Nähe zu Menschen, zu Freunden, von diesen äußeren Umständen nicht angetastet werden konnte.

Dass die zwischenmenschlichen und geistigen Mauern verschwanden, vor zwanzig Jahren, ist mir genug für lebenslange Dankbarkeit.
Dass außerdem noch die äußere Mauer, die Landesgrenze fiel, so dass ich hier lebe wo ich heute lebe und zu einem Besuch ins Nachbarland fahren kann, wann immer ich will, das ist schon fast unwichtig dagegen. Es ist so etwas wie das i-Tüpfelchen des Mauerfalls. (Naja, und i´s mit Tüpfelchen sind doch besser als ohne, gell?)



PS.
Nun habe ich mich in Youtube festgeschaut, finde unzählige Videos mit Szenen jener Nacht vom 9. zum 10. November.
Zum Beispiel
eine eindrucksvolle Dokumentation, die mir sehr unsere damalige Stimmung in Erinnerung ruft - das Verhalten der Menschen ist mir so vertraut (und vielen, die sich das heute anschauen, vermutlich sehr fremd);
oder
die Tagesschau vom 10. November 89 , die ich noch nie gesehen hatte.

1 Kommentar:

  1. Danke, Uta, ich kann durch dich ein Stück Geschichte nachholen. Ich weiss nicht, fremd kommt mir das nicht vor, sondern unglaublich echt. Und ich denke, jeder von uns hätte doch in jenen Schuhen genauso erlebt. Wer mag da zu urteilen.
    Ich wünsche mir sosehr, dass andere Mauern in unserer Welt auch bald fallen, dass sich auch andere Länder verstehen lernen, gemeinsame Wege finden, sich versöhnen können.

    Guten Tag dir!

    Gabriela

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.