Freitag, 23. Oktober 2009

Neue Schüler?

Da stehen sie an der Tafel, meine Schüler. Und während ich sie anschaue, ihre Augen, Worte, Hände, Körper sprechen sehe, denke ich mir so: Sind die eigentlich neu in der Klasse? (Nein, sind sie natürlich nicht.)
Habe ich sie schon jemals richtig gesehen?
Habe ich sie überhaupt jemals wahrgenommen?

Na wie auch, ich unterrichte sie ja erst seit 6 Wochen, einmal pro Woche. Ich habe 100 neue Siebtklässler kennenzulernen. Jede Woche habe ich die Namen aufs Neue vergessen. Bei 33 Kindern in der Klasse fällt das einzelne durch meine Wahrnehmung hindurch.

Zwangsläufig? Häufig jedenfalls. Anderen Kollegen geht es nicht anders. Wie sonst sollte ich den Satz einer Mutter auf dem Elternsprechtag deuten: „Danke – Sie sind die erste, die mein Kind so wahrnimmt.“ Ja, es gibt Kinder, die hat man bis zum Ende des Schuljahres nicht gesehen.

Heute aber darf ich meinen Schülern intensiv zuschauen. Ich sitze hinten im Raum, und ich kann sie plötzlich von einer ganz anderen Seite sehen, nicht nur im räumlichen Sinne. Es eröffnet mir komplett neue Blickwinkel, dass mein eigener Unterricht von der Praktikantin gehalten wird. Erstmals habe ich Zeit die Kinder zu beobachten, mich in jedes einzelne Kind zu vertiefen. Manche nehme ich heute zum ersten Mal wahr …

Wie spannend es ist, diesen Gesichtern zuzuschauen.
Sie denken nach, sie träumen, sie wirken traurig, sie lächeln.

Wie faszinierend es ist, einen Blick in die Bewegungen dieser jungen Seelen werfen zu dürfen.
Sie lassen ihre Blicke aus dem Fenster schweifen, sie hören konzentriert zu, sie schreiben kleine Briefchen (und zwischendurch auch von der Tafel ab), sie reden, weil es drängt, mit dem Nachbarn, sie sind aufgewühlt von Gedanken und Ahnungen, sie versinken erschöpft in ihrer Innenwelt.

Wie bewundernswert es ist, ihren Spagat zu beobachten.
Sie konzentrieren sich auf den Unterricht, trotz der Unruhe ringsum, und sie durchschreiten wie in einem Parallel-Universum ihre eigene Lebenswelt. Sie vereinbaren beides, werden den Sehnsüchten der eigenen Seele und den Anforderungen der Lehrerin gerecht, sie leisten eigentlich Unglaubliches. (Es ist so ermutigend, ihnen zuzuschauen. Es macht mir Hoffnung, meinen eigenen Spagat zu ertragen, zu leben, zu verwandeln. Schaut nur diese Kinder an …)

Ich bin heute reich beschenkt. Weil ich nicht vorn stehen muss, wo mir alles entgeht, darf ich wahrnehmen, was in diesen 33 jungen Menschen während einer langen Physik-Doppelstunde geschieht.
Welcher Reichtum in diesen jungen Seelen! Wie viele Träume, wie viele Blicke, wie viele wunderbarste Innenwelten!
Ich bin beglückt.

Heute bewegt mich dabei nicht die Frage, ob und wie sich dies mit meinem Unterricht verbinden lässt. Es kann, es wird sich verbinden lassen – jetzt erst recht, wo ich ihnen zuschauen durfte. Ich werde sie anders sehen, fortan.

Heute bewegt mich dabei die Frage, ob ich hiermit nicht wieder in oberflächlicher Betrachtung erstarrt bin. Wie viel – oder: wie wenig – weiß ich eigentlich von der Welt hinter diesen Stirnen? Welche Träume, welche Abgründe, welche Hoffnungen, welche Verzweiflungen der Kinder bleiben mir verborgen? Selbst heute, wo ich sie mit jeder Pore aufnehme und annehme?
(Ich denke vor allem an ein Kind dabei. Dieses sitzt heute nicht hier.)

Ach, vielleicht werden wir nie alles voneinander wissen. Vielleicht wird vieles im Verborgenen bleiben. Und doch: Wie wichtig ist es, aus anderer Perspektive zu schauen. Auf die Schüler, und auf so manches im Leben. Welch Geschenke werden uns zuteil, welch neue Sichten können sich eröffnen …

1 Kommentar:

  1. liebe uta,

    wie schön, dass du dies erfahren durftest. sicherlich bleibt vieles verborgen, jedoch je mehr man einen anderen "erkennt", desto besser sind die voraussetzungen wirklich in beziehung zu treten.

    "jegliches handeln hat nur im kontext von beziehung sinn, und ohne verständnis der beziehung wird es auf allen ebenen nur zu konflikten führen.
    ein verständnis der beziehung ist viel, viel wichtiger als die suche nach einem handlungsplan."

    krishnamurti

    gut, dass du irgendwann deinen plan erst machen wirst, wenn das schuljahr bereits zu ende ist.:))

    liebe grüße heike

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